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Kommentar von Antje Mayer

Geschichte gibt es nicht

ein Kommentar von Antje Mayer

Kunst-Globalisierung und Einheits-Geschichten – oder: Wie die ehemaligen Ostblockländer um Authentizität kämpfen. Ein Kommentar von Antje Mayer

Im Dezember (8. bis 12. 12. 2004) fand das Symposium „authentic structures“ in Prag statt, das tranzit.cz gemeinsam mit dem Museum of Modern Art, New York, und dem Goethe-Institut Prag organisierte. Kunstvermittler, Kunsttheoretiker und Künstler aus Ost und West diskutierten, ob es Ost- und Westkunst gibt, wie und ob die Kunstszenen in Osteuropa einen für sie „authentischen Weg“ der Kunstvermittlung und Kunstproduktion in Zukunft einschlagen können und ob man trotz historischer Unterschiede von einer „gemeinsamen kulturellen Landschaft“ sprechen könne.

Auf dem Symposium in Prag hörte man von den Künstlern und Kunstvermittlern aus den neuen EU-Staaten immer wieder die Klage, dass in ihren Ländern Geld für Kunst, Fachleute und die Infrastruktur für einen funktionierenden Kunstmarkt fehlen würden. Man ließe sie an einer internationalen Kunstszene nicht als gleichberechtigter Partner teilnehmen. Und wenn, dann lediglich in der Rolle der Exoten. Alles das würde sich im Marktpreis für so genannte „Ostkunst“ deutlich abzeichnen: Joseph Backstein, leitender Kurator der 1. Biennale in Moskau im Februar 2005, erinnert in diesem Zuge an die große Ausstellung im Kreml „Berlin – Moskau“ (2004), bei der unter anderem Gegenwartskunst aus Deutschland und Russland gezeigt wurde: „Der gesamte gezeigte Bestand russischer Gegenwartskunst war so viel wert wie gerade einmal drei bis vier Arbeiten der gezeigten deutschen Meisterwerke.“

„Hoffnung und Dialektik“ heißt das Motto der Biennale für Zeitgenössisches von 28. Januar bis 28. Februar 2005 in der russischen Hauptstadt. Dass mit dem Biennale-Titel eher die Hoffnung auf zahlungskräftige Moskaubesucher, ebensolche Sammler und einen guten Eindruck im Ausland gemeint ist, darf angenommen werden. Der Event soll, so der russische Kurator und Koordinator Joseph Backstein, seines Zeichens Leiter und Gründer des Center for Contemporary Art in Moskau, „die daniederliegende Kunstszene in Moskau wiederbeleben“. Ob man sich auf etwas Neues trotz des global ewig gleich gaukelnden Biennale-Zirkus freuen darf? „Nein, im Gegenteil“, macht Backstein keinen Hehl daraus, „die Biennale soll bewusst genauso wie alle anderen Veranstaltungen dieser Art daherkommen. Wir wollen der Welt schließlich zeigen: Wir sind professionell und können mit internationalen Standards mithalten.“ Handelt es sich hier nicht eher um eine Art „Prada-Taschen“-Effekt? Also: Ob echt oder gut nachgemacht, ist egal – Hauptsache, es glänzt global westlich wie Rolls-Royce-Lack? So fährt das Programm der Moskau-Biennale denn auch die massentaugliche internationale S-Klasse der Kunstwelt auf: Damien Hirst, Maurizio Cattelan, Olafur Eliasson, Ron Mueck, Jeff Wall oder Bill Viola. „Auf diese Teilnehmer“, so die Biennale-Leitung sei man „ganz besonders stolz“. Taktisch klug wird die Show künstlerisch ebenso von „kuratorischer Markenware“ der großen weiten Welt gelenkt: Daniel Birnbaum, Iara Boubnova, Nicolas Bourriaud, Rosa Martínez und Hans Ulrich Obrist.

Authentische Strukturen?

Und wo ist bei alledem die russische Kunst? Wo die authentische Struktur und Strategie? Warum nur so wenig Selbstbewusstsein? Woher nur die Sehnsucht nach dem globalen Markt? Eine gemeinsame Kunstlandschaft bedeutet doch nicht zwingend eine monoton gleiche auf der ganzen Welt. Führt dieser Drang nach der Kunstglobalisierung nicht gerade zum Abschleifen der Kanten und Ecken der nationalen Eigenheiten - ein Umstand, den gerade viele ehemalige Ostblock-Länder beklagen? Der so genannte Kunstmarkt, meint man häufig, sei daran schuld, aber ist dieser nicht ein eingebildetes Konstrukt? Definiert er sich in Wirklichkeit nicht mehr so sehr über den „Need“ für Kunst, sondern vielmehr über das Interesse für Kunst und die Aufmerksamkeitsökonomie von Kunst? Ist es nicht wichtiger, künstlerisch und Kunst vermittelnd den sozialen und politischen Prozess mitzugestalten, in dem Kunst passiert, als Kunst vom Markt abhängig zu machen?

Viel eher scheint die Selbstachtung zu gebieten, dass aufgezwungene Geschichte(n) selbstbewusst hinterfragt und eine eigene (Kunst-)Geschichte konstruiert wird. Kunst kann, wie man am Balkan sieht, ihr Scherflein dazu beitragen, den allgemeinen Demokratisierungsprozess zu beschleunigen. Von der Ostkunst zu sprechen, ist eine Gefahr, befinden sich doch die Länder derzeit – und vielleicht immer – in den unterschiedlichsten Aggregatzuständen hinsichtlich ihrer (Kunst-) Geschichtsaufarbeitung und Demokratieentwicklung. Wer Begriffe wie Ost- und Westkunst ablehnt, der soll sich selbst nicht unter eine Einheitsgeschichte, die telegen versimpelnd auf eine Kunstgeschichte vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Bezug nimmt, ein Hier und Dort, subsumieren lassen, sondern endlich anfangen, die eigene Geschichte zu konstruieren und diese auch aktiv auf dem internationalen (Kunst-)Parkett zu kommunizieren.

Die slowenische Künstlergruppe IRWIN versucht es. In Prag präsentierte sie ihre eigene East Art Map (www.eastartmap.org). Deren Motto lautet: „The History is not given, we have to construct it.” (Geschichte ist nicht vorgegeben, wir müssen sie konstruieren.”) Nicht chronologisch, sondern zeitlich wie räumlich dreidimensional spinnt sich das IRWIN-Netz nicht von Jahr zu Jahr, nicht von Institution zu Event, sondern von Persönlichkeit zu Persönlichkeit, eine Geschichte von Individuen.

Das Medium der Vermittlung eigener Geschichte und Kunst muss man manchmal neu erfinden. Wichtig ist meiner Meinung nach, dass sich die ehemaligen Ostblock-Länder nicht „kolonisieren“ lassen, und zwar, indem sie eigene – für sich sinnvolle – Strategien wie die Künstlergruppe IRWIN entwickeln. The medium is the message. Freiheit bedeutet auch Freiheit der Mittel. Kunst und Geschichte müssen nicht an staatlichen Akademien gelehrt werden, müssen nicht von so genannten Fachleuten und Kuratoren interpretiert werden, es erfordert nicht unbedingt Biennalen, Galerien, Museen, Sammler und auch nicht zwingend viel Geld, obwohl dieses freilich der Kunst zustehen muss. Die Mittel sind sehr vielfältig. Es gibt tausend neue Arten von Kunstvermittlung und -produktion, die schon erfunden wurden und die noch erfunden werden müssen.

Tschechien: Ein Beispiel

Als ich Mitte der neunziger Jahre meinen Professor am Institut für Kunstgeschichte an der Freien Universität in Berlin damit konfrontierte, dass ich meine Magisterarbeit über moderne tschechische Architektur schreiben wolle, lachte er erst nur abfällig und fragte: „Gibt es da denn irgendetwas Interessantes?“ Als ich ihm dann ein Jahr später mein Werk vorlegte, gab er selbst zu, dass seine anfängliche Arroganz doch voreilig war. Heute, 15 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, mögen es vielleicht einige verdrängt haben, aber es war zu der damaligen Zeit im Westen nur einigen Experten bekannt, wie zeitlich unmittelbar zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts die tschechische Kunst und Architektur (aber auch Philosophie und Musik) mit den aktuellsten bahnbrechenden internationalen Kunstströmungen vernetzt war, durch sie inspiriert wurde, und vice versa.

Ein Beispiel: Der Sammler Vincent Kramár erwarb nur zwei Jahre nach ihrer Entstehung die spektakulär multi-perspektivisch und kubistisch gemalten „Demoiselles d’Avignon“ (1907) von Picasso, ein Schlüsselwerk der Kunstgeschichte, die Gouache „Harlekin“ des Künstlers und vier Tage darauf Picassos berühmten bronzenen Frauenkopf von 1909. In seiner Privatwohnung machte er für die jungen Prager Künstler die neuesten kubistischen Werke aus Frankreich zugänglich. Diese waren tief beeindruckt und übersetzten in den folgenden Jahren diesen neuen Stil in ein weltweit einmaliges kunsthistorisches Phänomen: kubistisches Design und kubistische Architektur.

Auch wenn tschechische Kunsthistoriker freilich diesen Umstand kannten, so hatten doch viele ihrer Kollegen in den Ostblockstaaten durch ihre Isoliertheit keine Möglichkeit, Essays zu diesem Thema in westlichen Fachpublikationen zu publizieren. Damit war es im Wahrnehmungsbereich der westlichen Kunstwelt schlichtweg nicht präsent. Ignoranz oder nur Schicksal? So wie die Tschechen so gut wie keinen Zugang zu französischer Literatur hatten, der ihnen ermöglicht hätte, etwa den Konnex vom Kubismus in Frankreich und Tschechien ausreichend zu belegen, so konnten aber auch die westlichen Kunsthistoriker kaum an tschechische Quellen herankommen. Helena Königsmarková, heute Direktorin des Museums für Angewandte Kunst in Prag, kann von der Arbeitssituation damals Bände sprechen: „Als Kunsthistorikerin musste ich über vierzig Jahre alt werden, um das erste Mal in den Westen reisen zu können und Arbeiten im Original zu sehen. Endlich hatte ich Zugang zu wichtigen Quellen und Literatur der Kunstgeschichte. Es war wie im Paradies.“ Ich wiederum weiß im Gegenzug von einem Kollegen in Berlin, der über den Bildersturm der Hussiten promovierte und vor 1989 die größten Schwierigkeiten hatte, in der Tschechoslowakei Zugang zu den Archiven zu bekommen.

Erst die Großausstellung „1909–1925 Kubismus in Prag“ im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf, brachte das Thema des tschechischen Kubismus erstmals in den Wahrnehmungsbereich der westlichen Kunsthistoriker. Das war schon früh, im Jahr 1991. Dass die hervorragende Ausstellung neben Tomáš Vlcek von Jiří Svestka kuratiert wurde, der heute der einzige kommerziell erfolgreiche Galerist für zeitgenössische Kunst in Prag ist, spricht Bände. Die zwei hatten sich mit einem großen Team von hervorragenden tschechischen Fachleuten vor Ort ein Herz gefasst und selbst einen Teil ihrer Kunstgeschichte aus der Bedeutungslosigkeit im Westen herauskatapultiert. Der Katalog zur Ausstellung gehört zu dem Besten, was es in diesem Bereich gibt. Es sollte dann skurrilerweise noch Jahre dauern, bis man in Prag endlich eine Ausstellungsstätte (im „Haus zur schwarzen Mutter Gottes“) einrichtete, die das Phänomen auch vor Ort entsprechend würdigte.

Aufgrund dieser Tatsache darf man aber den Prager Institutionen nicht unbedingt Arroganz und Ignoranz vorwerfen. 1991, als die Kubismusausstellung in Düsseldorf stattfand, waren erst zwei Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vergangen. In Tschechien gab es die kompetentesten Kunsthistoriker, aber kein Fachpersonal mit Management-Erfahrung, man hatte kein Geld und keine geeignete Infrastruktur, um eine solche Großausstellung selbst zu realisieren. Dazu noch einmal Königsmarková, Direktorin des Museums für Angewandte Kunst in Prag: „Nach 1989 wurden wir Kunstvermittler auf einmal mit Begriffen wie ‚Fundraising’ oder ‚Zielgruppen-Analyse’ konfrontiert. Es dauerte mindestens bis Mitte der Neunziger, bis wir unsere Personalangelegenheiten in den Griff bekommen hatten, und bis Ende der Neunziger, bis wir das neu Gelernte auch umsetzen konnten.“

Selbstbewusst kommunizieren

Das, was gerade exemplarisch für Tschechien angeführt wurde, ist auch auf die Situation vieler anderer ehemaliger Ostblock-Staaten zu übertragen. Selbstverständlich waren die Szenen historisch in internationale Szenen eingebunden und entwickelten freilich eigene Positionen, vor, aber auch während der kommunistischen Epoche. In unterschiedlichem Tempo, meist erst sehr langsam, werden die Kunstgeschichten der Länder aufgearbeitet und auch entsprechend selbstbewusst im In- und Ausland kommuniziert. Die akademischen Grundlagen von Kunstgeschichtsforschung sind, oft auf sehr hohem Niveau, ohnehin gegeben. Aber ihre Kunstszenen eignen sich gerade erst Stück für Stück neue (teilweise auch sehr pragmatische) Methoden der Vermittlung und Aufarbeitung an: neue Bibliotheken, Archive und neue Formen des Kulturjournalismus oder der Museumspädagogik. Teilweise geschieht das jedoch immer noch etwas zu langsam durch die Länder selbst, sondern leider oft immer noch durch außen: durch Ausstellungen im westlichen Ausland (siehe oben), durch westliche Institutionen, manchmal, aber immer seltener, eben auch durch westliche Kuratoren.

Auch wenn Events wie die Ausstellung „Blut & Honig. Zukunft ist der Balkan“ von Harald Szeemann in der Sammlung Essl (2003) sehr kritisiert wurden, weil sie angeblich eine Region „folklorisiert“ oder „kolonisiert“ hätten, so sind sie nicht nur ein internationales Sprungbrett für viele Künstler gewesen, sondern arbeiteten erstmals jüngere Geschichten auf, setzen Kunst in Bezüge und waren nicht selten Inputgeber für einen Prozess der Selbstfindung. Aber damit muss nun ein Ende sein. Die notwendigen Strategien, auch wenn sie nur schleppend vorangehen, müssen angepackt werden. Warum nur verharrt man wie gelähmt vor der Schlange „westlicher Kunstmarkt"? Hat sie so einen hypnotisierenden Blick? Warum wendet man ihn nicht langsam woanders hin, nämlich zu sich selbst?!



Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,
Dezember 2004

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